Im südlichen Mexiko haben die Frauen das Leben in ihre Hände genommen. Juchitán gilt als die Stadt der Frauen. Sie liegt am Isthmus von Tehuantepec, das ist ein Küstenstreifen mit Lagunen voller Flamingo-Kolonien und Pelikanen, die den Fischern zuweilen das Leben schwermachen. Anders als in der Touristenhochburg Oaxaca gibt es in Juchitán mit seinen 100.000 Einwohnern keine Prachtbauten oder architektonischen Glanzlichter, denn hier residierten keine Herrscherfamilien. Sogar die Hauptkirche San Vicente mutet ziemlich bescheiden an, was nicht gerade typisch ist in Mexiko. Europäer meiden diesen Ort, denn nicht selten weht hier der berüchtigte „Norte“, ein heißer Wind aus dem nördlichen Hochland, der die ganze Region in einen Vorhof der Hölle umwandelt.
Dies schreckte aber die Soziologin und Ethnologin Veronika Bennholdt-Thomsen, die Fotografin Cornelia Suhan und die Journalistin Mechthild Müser nicht ab, gleich ein ganzes Jahr in Juchitán zu leben, um ein ganz besonderes „Matriarchat“ im Land des „Machismo“ zu erkunden. Grundlage dessen sind alte gesellschaftliche Strukturen des indianischen Volkes der Zapoteken. Das Haus wird dort zum Beispiel an jene Tochter vererbt, die der Alten bis zum letzten Tag beisteht.
Viele Juchitecas, in etwa ein Drittel aller Frauen, haben studiert und arbeiten in höher qualifizierten Berufen, das liegt deutlich über dem mexikanischen Durchschnitt. Es gibt in Juchitán keine einzige Frau, die finanziell von ihrem Mann abhängt. Es sind die Frauen, die sich das Geld in den Rockbund klemmen oder Goldmünzen verstecken. Die Banken sehen davon nichts. Sie tragen sogar bewusst und stolz ihren Reichtum in Form von prächtigem Goldschmuck zur Schau. Sie sind frei, sie sind schön, sie sind finanziell und vor allem sexuell unabhängig, die Frauen in Juchitán, und das nun schon seit Jahrhunderten so.
Werfen wir nun einen Blick auf die Rolle der Männer in dieser sonderbaren Stadt. Da herrscht zunächst eine klare Arbeitsteilung. Frauen treiben Handel, Männer bewirtschaften den kargen Boden. Außerdem sind sie als Fischer in der nahen Lagune unterwegs, sie jagen Leguane und beliefern den Markt der Frauen. Aufgrund der zunehmenden Arbeitslosigkeit sind immer mehr Landarbeiter finanziell von ihren Frauen abhängig. Dennoch war und ist Politik Männersache. Doch wehe, die getroffenen Entscheidungen missfallen den Frauen.
Ansehen genießt in Juchitán nicht, wer viel hat, sondern derjenige, der viel gibt. In dieser Stadt ist es nicht möglich zu verhungern, denn an jedem Tag wird dort mindestens ein Fest gefeiert. Dieses Gesellschaftsmodell der „FrauenWirtschaft“ ist faszinierend, macht neugierig und sollte hoffentlich bald andere Gesellschaften zur Nachahmung animieren. Die Fotos im Buch haben ganz authentische Momente festgehalten und zeigen überaus sinnesfrohe Frauen voller Lebensgewalt, die so erotisch wie würdevoll herüberkommen.
Die Autorin (hier stellvertretend für alle nur die Erstgenannte)
Veronika Bennholdt-Thomsen wurde am 12.09.1944 im Tiroler Seefeld geboren und hat unter anderem in Österreich Soziologie und Ethnologie studiert. Seit 1966 hat sie einen Wohnsitz in Mexiko. 1973 promovierte sie an der Universität Köln an der philosophischen Fakultät. 1982 habilitierte sie an der Universität in Bielefeld in Soziologie und begründete dort den Fachbereich „Frauen und Dritte Welt“. In den Jahren 2005 und 2006 war sie als Beraterin hinsichtlich eines neuen Magisterstudienganges in Oaxaca/Mexiko am „Zentrum für Forschung und höhere Studien in Sozialanthropologie“ tätig. Heute leitet sie in Bielefeld das „Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz e. V.“ (ITPS).