Annie Ernaux hat sie selbst erlebt, die „amour fou“ mit einem jüngeren Mann, der natürlich schon verheiratet war, ein eleganter russischer Diplomat an der Botschaft in Paris. Diese zwölf Monate der großen Liebe waren wie ein Tornado und zugleich eine Lektion darüber, wie schmal der Grat zwischen Liebe und Wahnsinn sein kann.
„Sich verlieren“ nannte sie ihr Tagebuch, das sie in jener Zeit akribisch führte, ein authentisches Dokument sexueller Passion, die sich gleichsam zu einem Strudel entwickelte, der nur der Anfang einer Reise in die Finsternis sein sollte.
Ihre erste gemeinsame Nacht verbrachten sie in Sankt Petersburg. Die Schriftstellerin Annie Ernaux befand sich auf Autorenreise in Russland. Ihr russischer Reisebegleiter, nennen wir ihn S., ist 36 Jahre alt und damit jünger als Annie Ernaux.
Der große Blonde ist äußerlich nicht unbedingt ein Adonis, aber mit seinen grünen Augen weckt er in ihr ein geradezu brennendes Begehren. Wann immer möglich, treffen sich die beiden Verliebten zum Liebesspiel und sind dabei gierig und haltlos. Bald wird S. an die Pariser Botschaft versetzt, allerdings begleitet von seiner Frau Maria, die zugleich als Sekretärin für ihn arbeitet.
S. kann es aber nicht lassen und sucht in Paris den Kontakt zu Annie. Die himmelstürmende Affäre geht weiter. Annie Ernaux genießt zunächst den Kitzel des Verbotenen, noch dazu auf glanzvollem Parkett. Sie dinieren mit François Mitterrand bei Gallimard und nehmen an Empfängen im Élysée-Palast teil. Es gibt überdies viele Soireen mit dem russischen Botschafter. Unter der zur Schau gestellten Oberfläche brüllt das Feuer ihrer unersättlichen Lust aufeinander.
Jeder Blick, jede Geste und vor allem jede Berührung steigern ihr Begehren ins Unermessliche.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Annie beginnt unter der Situation zu leiden, was unter anderem daran liegt, dass allein S. darüber bestimmt, wie sich ihre Liebe weiterentwickelt. Dies geschieht über eilige Anrufe aus Telefonzellen, die den nächsten „Termin“ festlegen oder eben absagen.
Mitunter hört Annie tage- oder wochenlang nichts von S., wobei er ihr gegenüber nichts von alledem begründet. Er kommt und geht eben selbstbestimmt, wie es ihm passt. Das Telefon, das ewig nicht läuten will, empfindet sie als Terror, sein unerträglich langes Schweigen löst in ihr Panik aus. Ihr ganzes Leben besteht irgendwann nur noch aus Warten auf ihn. Immerzu schluckt sie ihre Enttäuschung herunter, weil sie ihn mit ihrer Anhänglichkeit und mit ihrer Liebe nicht einengen will.
Ihr permanent unbefriedigtes Verlangen nach ihm lässt sie schlecht schlafen und träumen. Dennoch bleiben Begegnungen mit S. so absolut grandios und von nahezu brutaler Intensität erfüllt, dass sie nicht einmal den Gedanken an eine Trennung zulässt.
Sie liebt sein russisches Temperament, seine Jugend und seine Tatkraft, denn er ist es, der immer wieder jene dicke Mauer niederreißt, mit der sie sich selbst während der letzten zwanzig Jahre umgeben hat. Die zügellose Sexualität, die sie mit ihm erlebt, kennt weder Tabus noch Sättigung mit dem Ergebnis, dass ihr Verlangen nach ihm durch jedes Treffen weiter wächst.
Für ihn lernt sie Russisch, liest sogar Anna Karenina und trägt nun teure Kleider. Alles in ihrem Leben dreht sich nur noch um ihn. Nicht, dass sie es nicht bemerkt hätte, dass sie sich in eine fatale Abhängigkeit von ihm begeben hat. Zuweilen verflucht sie sogar ihre Freiheiten als Journalistin und Schriftstellerin, da diese sozusagen eine Grundlage für ihre Disziplinlosigkeit ihm gegenüber bilden.
Zunehmend wird sie von wahnhaften Ängsten geplagt, zum Beispiel darüber, dass er sie vielleicht bald nicht mehr begehrt oder dass er plötzlich Paris verlassen könnte. Vielleicht gibt es ja auch noch eine andere Geliebte in seinem Leben? Annie droht nun an ihrem Kokon aus Selbstzweifeln zu ersticken.
Schließlich kommt tatsächlich jener schreckliche Moment, da S. zurück nach Moskau muss. Und wieder schweigt das Telefon, wann endlich verabredet er mit ihr das ersehnte Abschiedstreffen? Nach Tagen panischer Verzweiflung ruft sie die Botschaft an und erfährt nur, dass er abgereist sei. Sie wird nun nie wieder etwas von ihm hören. Was ihr bleibt, ist die Aufgabe, das Leben neu zu erlernen.
Als Goldmann-Taschenbuch gibt es den Roman „Eine vollkommene Leidenschaft“, in dem Annie Ernaux ihre Beziehung zu S. nochmals literarisch verarbeitet. Er fußt auf ihrem Original-Tagebuch „Sich verlieren“, das die Autorin selbst als „Schrei der Leidenschaft und des Schmerzes“ verstanden wissen will. Darin hat sie ihre Gedanken und Gefühle ganz authentisch, gewissermaßen unzensiert festgehalten, was ihre Aufzeichnungen so beklemmend wie fesselnd macht.
Die Autorin
Annie Ernaux wurde im Jahre 1940 in Lillebonne nahe Le Havre geboren. In Rouen studierte sie Literaturwissenschaften und lebte danach zunächst in Bordeaux und Annecy. Etwas später zog sie in die Nähe von Paris. Annie Ernaux ist eine der renommiertesten Autorinnen und Publizistinnen Frankreichs und wurde mit vielen literarischen Preisen ausgezeichnet. Ihr „Erfahrungsbericht“ Sich verlieren befand sich viele Wochen lang auf der französischen Bestsellerliste.
Pressestimmen
Le Monde: „Ein leidenschaftliches und zorniges, ein erstaunliches Buch – Annie Ernaux‘ Sprache ist klar, präzise und unerbittlich und ihr Tagebuch das faszinierende Dokument eines Selbstverlustes!“
Le Journal du Dimanche: „Es ist Annie Ernaux‘ unermüdliche Suche nach der Wahrheit und der Schönheit, die sie zu einer außergewöhnlichen Autorin machen!“
Lire: „Annie Ernaux ist eine große Schriftstellerin!“
Elle: „Muss man alles sagen, darf man alles schreiben? In ihrem Buch gibt Ernaux eine unmissverständliche Antwort… Von der ersten Zeile an fühlt man sich wie sie selbst erfasst vom Schwindel des Wartens, besessen von dem Telefon, das nicht klingelt, der Zeit, die zu schnell vergeht. Die Liebe, der Tod und die Literatur sind untrennbar verbunden in diesem ungewöhnlichen Buch, das den Leser hineinreißt in die Intimität eines Paares, ohne dass er zum Voyeur wird.“
Le Figaro: „Das fesselnde Zeugnis einer sexuellen Passion – atemlos, gewalttätig, zerbrechlich! ‚Sich verlieren‘ ist ein krudes, eindeutiges Bekenntnis, weit entfernt von romantischer Überhöhung.“