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Udo Jürgens, Michaela Moritz: DER MANN MIT DEM FAGOTT

Heinrich Bockelmann war der Großvater von Udo Jürgens. Nachdenklich schlenderte Heinrich im Jahre 1891 über den Bremer Weihnachtsmarkt. Er dachte darüber nach, ob er sein Glück in Amerika oder doch lieber in Russland suchen sollte. Gemäß der Schilderung seines Vaters sei eben nicht Amerika, sondern Russland das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. In diesem Moment erklang die bekannte russische Weise „Kalinka“ ausgerechnet aus einem Fagott, geradezu wie ein Echo seiner Gefühle, das musste wohl ein Zeichen des Schicksals sein.

Gleich nach seiner Ankunft entdeckte Heinrich Bockelmann eine Bronzestatue in einem Moskauer Antiquitätengeschäft. Es handelte sich dabei, welch ein Zufall, um einen Mann mit einem Fagott. Das Geheimnis um jenen Fagott-Spieler in Bremen und diese Bronzefigur, das den ganzen Lebensweg von Heinrich Bockelmann zu bestimmen schien, ist ein Leitmotiv des Romans.

Im zaristischen Russland arbeitete sich Heinrich Bockelmann zum Mit-Inhaber der berühmten Junker-Bank hoch. Auf dieser Privatbank bunkerte sogar der Zar höchst persönlich einen erheblichen Teil seines Vermögens. Fast folgerichtig heiratete Heinrich die Tochter des Bankgründers, Anna, mit der er fünf Söhne haben sollte: Erwin, Rudi, Werner, Gert und Johnny.

Doch bald kam es zu Demonstrationen und 1905 zum Petersburger „Blutsonntag“. Straßenkämpfe zwischen zarentreuen Bürgern und Revolutionären sollten bald in einen Umsturz münden. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden plötzlich alle Deutschen zu Feinden Russlands erklärt. Heinrich Bockelmann versuchte, zusammen mit seiner Familie, nach Schweden zu fliehen. Anna und seine Söhne schafften es tatsächlich, das Land zu verlassen, doch er selbst wurde verhaftet und kam nach Wjatka in die Verbannung.

Es dauerte fast ein ganzes Jahr, bis ihm ebenfalls die Flucht nach Schweden gelang. Mithilfe eines alten Freundes, Baron Rothschild, startete er dort einen Neubeginn. In der Hoffnung, einen Beitrag leisten zu können, den furchtbaren Krieg zwischen Deutschland und Russland endlich zu beenden, schloss er sich einer Initiative von deutschen Geschäftsleuten an, die den Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin im Jahre 1917 in einem Zug aus dessen Schweizer Exil heraus nach Russland bringen sollten.

1921 kehrte Heinrich nach Deutschland zurück. Etliche Jahre später erstarkten die Nationalsozialisten, was den Demokraten Heinrich dazu veranlasste, Deutschland wieder zu verlassen. In Österreich kaufte er zunächst das Schloss Ottmanach, um schließlich nach Meran zu gehen, wo er im Winter 1945 verstarb. Seine Söhne hatte er nicht mehr wiedergesehen.

Sein ältester Sohn Erwin engagierte sich nach dem Krieg sehr erfolgreich in der Ölindustrie. Der zweitgeborene Rudi, der Vater von Udo Jürgens, verwaltete das Schloss Ottmanach und geriet in die Fänge der Gestapo. Wegen des nahenden Kriegsendes entkam dieser aber der Vollstreckung des Todesurteils. Werner war der Dritte in der Reihe und engagierte sich schon früh in der kommunistischen Partei. Nach dem Krieg war er einer der führenden sozialdemokratischen Politiker in Deutschland und empfing zum Beispiel als Oberbürgermeister von Frankfurt im Jahre 1963 den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Frankfurter „Römer“. Der jüngste Bruder Johnny kehrte auf abenteuerlichem Wege erst spät aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück nach Deutschland.

Rudi Bockelmann hat drei Söhne, darunter eben auch Udo Jürgens, der auf Schloss Ottmanach aufwächst und als Musiker große Karriere macht. Noch als Kind erlebt er Nazideutschland für eine kurze Zeit und natürlich das Kriegsende.

Das Schicksal der Familie Bockelmann ist nur ein Beispiel, das mit diesem Buch aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts herausgegriffen wurde. Erzählt wird darin von Glanz und Gloria der Zarenzeit, von den stürmischen Zeiten zweier Weltkriege, von den Schreckensherrschaften kommunistischer und nationalsozialistischer Diktaturen, von Gefangenschaft, Befreiung und Flucht sowie vom Kampf für Demokratie und Humanität bis hin zu einem geeinten Europa nach der Überwindung des Kalten Krieges.

Dabei war die Musik für Udo Jürgens schon seit seiner Kindheit ein Vehikel für ein besseres Verständnis der Welt.

Die Autoren

Udo Jürgens-Bockelmann wurde am 30. September 1934 im österreichischen Klagenfurt geboren. Er war Musiker, Komponist, Interpret und Entertainer. Dieses Buch ist sein Versuch, die eigenen Wurzeln aufzuspüren, gleichsam eine literarische Spurensuche in einem turbulenten Jahrhundert, das von Monarchien, Faschismus, Kommunismus und Demokratien geprägt war und sowohl Frieden und Glanz, aber auch viel Elend und Krieg hervorbrachte.

Michaela Moritz wurde erst 1970 geboren, lebt in der Nähe des Bodensees und erhielt 1994 (unter einem Pseudonym) den österreichischen Nachwuchsförderpreis für Literatur.