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Rüdiger Safranski: Cees Nooteboom

Ein Lied von Schein und Sein

von Cees Nooteboom (Autor), Helga van Beuningen (Übersetzer)
Deutsch, Gebundene Ausgabe – 6. März 1994

Die Erzählung beginnt mit dem einfachen Satz: „Der Oberst verliebt sich in die Frau des Arztes.“ Mehr bringt der Schriftsteller von seinem ersten und einzigen Roman nicht zu Papier. Erst ganz allmählich nehmen die Figuren vor seinem geistigen Auge Gestalt an: Oberst Ljuben Georgiew, der Militärarzt Stefan Ficew und dessen Frau Laura. Dass seine Geschichte vor ungefähr 100 Jahren in Bulgarien spielt, dämmert erst so ganz langsam am Horizont seiner Fantasie hoch.
Was hat es eigentlich auf sich mit Sein und Schein, mit Fiktion und Wirklichkeit?

Welche Rolle liegt der Zeit inne, bei solchen Prozessen des Findens oder Erfindens? So strebt jene Dreiecksgeschichte langsam aber sicher ihrem Höhepunkt entgegen, der darin besteht, dass der Schriftsteller nach Rom reist, wo inzwischen auch seine bulgarischen Romanfiguren aus dem vorigen Jahrhundert angekommen sind.

Über den Autor

Eine Hommage an Cees Nooteboom von Rüdiger Safranski

In Nootebooms Roman wird unter anderem die Frage gestellt, wozu wir uns so oft mit Fiktionen herumschlagen, wenn doch die Wirklichkeit jeden Tag schon genug Herausforderung für uns ist.
Cees Nooteboom war erst 20 Jahre alt, als er 1953 seinen Roman „Philip en de anderen“ (Das Paradies ist nebenan) schrieb, trotzdem erregte sein Buch großes Aufsehen. Erzählt wird in diesem Buch, wie Philip auf der Suche nach einem chinesischen Mädchen durch Europa trampt. Ein entlaufener Mönch hatte ihm lediglich von diesem Mädchen erzählt. Am Ende findet Philip das Mädchen auch, um es sogleich wieder zu verlieren.

Es ist wohl der Geist der Ironie, der die Frage nach dem Sinn des Erzählens selbst zum Inhalt einer Erzählung werden lässt, so geschehen im Roman „Ein Lied von Schein und Sein“.
Die Dreiecksgeschichte spielt in Bulgarien im Jahre 1878. Die Zutaten sind ein kochender Kessel mit Blut aus sinnlosen, dummen Kriegen, ein Oberst, der Schopenhauer mag und von Albträumen geplagt wird, ein Arzt, der das Licht Italiens liebt, und dessen Frau, die ihrerseits den Oberst liebt. Doch das Finale der Geschichte spielt sich in Rom ab, wo der Erzähler 100 Jahre danach das alles in einem Hotelzimmer aufschreibt.

Cees Nooteboom möchte wissen, wo sich die Geschichten eigentlich vorher befinden, die der Schriftsteller gerade erfindet. Hat der Autor Macht über sie oder ist es eher umgekehrt, dass die Geschichten Macht über ihn haben? Denken wir wirklich aktiv selbst oder sucht sich der Gedanke lediglich einen Kopf, wo es ihm gemütlich ist?

Der Faschismus oder der real existierende Sozialismus waren Erfindungen, ja Mythen, auf deren Basis die Wirklichkeit organisiert und zugleich überwältigt wurde. Wo wir auch hinsehen, überall weiter nichts als Imaginationen. In welcher Welt lebt der Mensch, der viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt? Wie real ist die Wirklichkeit in diesen Zeiten der alles dominierenden Telekommunikation?

Nooteboom berichtet darüber, wie er auf den Spuren von Cervantes stets auf Don Quijote, Sancho Pansa und die Dulcinea trifft, als hätten diese und nicht Cervantes tatsächlich gelebt. Wir wissen, wie Don Quijote aussah, aber von Cervantes können wir uns kein Bild machen. Auch das Haus der Dulcinea samt Einrichtung kann heute jeder besichtigen.

Das Lied von Schein und Sein sollte ursprünglich lediglich ein Teil des Romans „Rituale“ sein, jenes Werkes, das Nooteboom selbst sein Opus magnum nennt. Auch hierin geht es um eher verkrampfte Versuche der Sinngebung für das Sinnlose.

Rituale ist so melancholisch wie ironisch. Das Buch beschäftigt sich mit der allesfressenden Zeit sowie mit den selbstzerstörerischen Versuchen, dem zu entkommen. Dichter und Erzähler sind heute wie Penelope, die in der Nacht das Gewebe wieder auflöst, welches sie am Tage gewirkt hat.

Es ist schon eine Krux: So sehr wir es auch möchten, wir können die Ausblendung des Bewusstseins beim Einschlafen nicht erleben, wer darauf besteht, kann nicht einschlafen. Tatsächlich sind wir dazu verdammt, den „kleinen Tod“ jeden Tag zu verpassen.